Weit mehr als ein Riss in der Fassade
- Susanne Beck
- 12. Juli
- 3 Min. Lesezeit
Gestern ist für mich, in mir, etwas zerbrochen. Ich weiß, wie pathetisch das klingt. Ich weiß, wie schnell man sich in Zeiten wie diesen in Alarmismus verliert, in Übertreibungen, in Weltuntergangsrhetorik. Aber das war anders. Es war nicht übermäßig laut, kein Umsturz, kein Putsch. Ja, es wurde viel darüber berichtet, aber es gibt immer noch Menschen, die kommentieren „Ich verstehe die Aufregung nicht.“ Warum auch: Es war doch nur die routinierte, disziplinierte Abwicklung einer Niederlage. Einer Niederlage nicht der Kandidatin, nicht der SPD, sondern einer Niederlage für die Demokratie.
Die Bundesverfassungsrichterin Frauke Brosius-Gersdorf ist nicht gewählt worden, die Wahl wurde verschoben. Es fehlten Stimmen aus der Union, dem rechtsaffinen Flügel. Die Stimmen, die lieber früher als später mit der AfD koalieren wollen. Die abends nach diesem Geschehen feiern und die Bilder von diesen Festen auf den sozialen Medien posten. Die AfD hat applaudiert, feiert sicher noch mehr. NIUS hat es inszeniert. Die Kommentare unter den einschlägigen Instagram-Accounts erzählen den Rest der Geschichte.
Frauke Brosius-Gersdorf fehlt es nicht an Qualifikation, nicht an Erfahrung. Das ist bei Menschen, die sich auch nur ein wenig auskennen, nicht mal eine Frage. Die Skandale wurden bewusst inszeniert, die Aussagen verzerrt. Kulturkampf wie aus dem Bilderbuch.
Macht es euch nicht auch fassungslos? Wie eine kluge, integre Frau durch eine orchestrierte Kampagne aus dem Rennen gedrängt werden kann? Die Brutalität dieser Strategie ist schockierend: Wie aus juristischen Fachfragen durch ein paar NIUS-Artikel plötzliche Skandale werden. Wie aus einem nüchternen Bekenntnis zum Grundgesetz (inklusive der Möglichkeit eines AfD-Verbots, der einzig wahre Grund für das alles) der Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit und Parteilichkeit wurde. Wie Begriffe wie „Lebensschutz“ oder „Gender-Ideologie“ aufgeladen, verdreht, instrumentalisiert wurden, um das zu tun, was rechte Kulturkämpfer in den USA perfektioniert haben: Zerstören. Dämonisieren. Sich selbst moralisch erhöhen, um besser nach unten treten zu können.
Und es funktioniert. Das ist das Schlimmste: Es funktioniert. Nicht nur auf Telegram oder in dunklen Kommentarspalten. Es funktioniert in der Mitte unserer Gesellschaft. In den Fraktionen. Im Bundestag. Es ist kein Riss mehr, es ist eine tiefe, unüberwindbare Spaltung. Die Union hat sich längst neu sortiert. Was früher als viel zu weit rechts galt, ist heute konsensfähig. Wer aufsteht, wird abgesägt. Wer differenziert, wird verdächtigt. Wer standhaft bleibt, wird bedroht.
Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Nein, das stimmt nicht, ich halte es schon länger für möglich, deshalb überkommt mich immer wieder eine tiefe Schockstarre. Ich habe es geahnt, aber immer wieder weggeschoben. Wir alle, glaube ich, tun das. Wir glauben immer noch, dass unser System stark genug ist. Dass es Korrektive gibt. Dass es irgendwann einen Moment gibt, in dem sich Vernunft und Gerechtigkeit durchsetzen. Aber was, wenn dieser Moment nicht kommt? Was, wenn wir ihn schon verpasst haben?
Es ist das erste Mal, dass ich mich wirklich frage, ob der Kampf überhaupt noch etwas bringt. Ob wir nicht längst mittendrin sind in einem Prozess, der sich nicht mehr aufhalten lässt. Der von innen heraus alles aushebelt, was wir zu verteidigen glauben. Wenn ich sehe, wie sich Kommentare häufen, die sich eine autoritäre Wende wünschen. Wenn ich lese, wie viele Menschen die Diffamierung einer Verfassungsjuristin feiern.
Dann merke ich, dass die Ränder keine Ränder mehr sind.
Vielleicht war ich zu lange naiv. Vielleicht sind wir alle zu lange davon ausgegangen, dass die AfD nicht regierungsfähig ist, dass Reichelt keine echte Macht in der Mitte hat, dass rechte Netzwerke nicht weit genug reichen. Aber gestern habe ich zum ersten Mal gespürt, wie schnell es geht, wenn die Brandmauer porös wird. Wenn aus demokratischem Zweifel autoritäre Sehnsucht wird. Und wenn am Ende niemand mehr übrig bleibt, der „Stopp“ sagt.
Ganz nebenbei ignoriert Dobrindt ein Gerichtsurteil nach dem anderen. Wird Spahn für seine Korruption nicht belangt, weil die in der Union ganz normal ist. Suhlt sich die SPD in der Opferrolle, weil sie für die Aussetzung des Familiennachzugs ja stimmen „musste“, um des Koalitionsfriedens willen. Koalitionsfrieden, my ass.
Ich bin nicht mehr wütend. Heute bin ich vor allem müde. Geschockt. Und sprachlos.
Gerade das macht mir Angst. Denn Sprachlosigkeit war noch nie ein guter Anfang. Und sie ist ein verdammt gefährliches Ende.
Wer findet seine Sprache schneller wieder als ich?
Wer hat eine Idee, was wir noch tun könnten? Gibt es noch etwas?
Liebe Susanne, liebe Sabine.
Dir, Susanne, danke ich für die Aufklärung in Sachen Bundesverfassungsrichterin. Hatte ich nicht verfolgt. Fühle deine Wut und Empörung und erst recht die Schockstarre. In die bin ich nun viele Jahre gefallen gewesen.
Danke so sehr für dieses Forum, das Möglichkeit zum Austausch bietet, das mir zeigt: ich bin nicht allein mit meiner Wut und Ohnmacht. Weil ich seit Monaten den Lehrgang "Human Future Movement" von Veit Lindau mitmache, verstehe ich inzwischen besser diese gesellschaftlichen Gegebenheiten und Rückschritte. Lindau belegt, dass etwa 60 % der Bevölkerung anhand ihres derzeitigen Bewussheitsstandes Werte vertreten, die wir (also ihr beiden und einige Prozent mehr in der Bevölkerung) als überholt, diskutierfähig, verbesserungsfähig halten (ist wissenschaftlich belegt). Das hilft beim Verstehen dieser Mechanismen. Meine…
Liebe Susanne,
ich verstehe das nur zu gut. Manchmal überkommt mich auch die Müdigkeit und ich bin verzweifelt, aber die Reden von Britta Hasselmann und von Heidi Reichinnek haben mich sehr abgeholt gestern. Wir haben ein Recht auf Wut und auch darauf, sie zu zeigen. Das ist mehr als schöne Kleider spazieren zu tragen und Leute im Bundestag zu maßregeln. Für mich ist das auch kein Zufall, dass das Patriarchat wieder versucht, Frauen zu beschädigen und "einzuhegen".
Wir müssen als Frauen, als Menschen, die dagegen halten, wieder auf die Straße, mehr als zuvor. Es hilft nur Widerstand zu zeigen, egal wie sehr Bewegungen wie "Omas gegen rechts" verunglimpft werden. Wir sind einfach mehr, aber wir müssen uns organisieren!
In vielen…