Der Zeitenwanderer
- Susanne Beck

- 17. Nov.
- 3 Min. Lesezeit
Ich bin spät angekommen, in einer Stadt, die sich in den Regen hüllt. Hannover riecht nach feuchtem Asphalt und matschigen Lindenblättern, und manchmal, wenn nachts eine Straßenbahn vorbeituckert, klingt es, als würde ein alter Teppich ausgeklopft werden. Ein Klang, den ich aus der Zeit meiner Entstehung kenne.
Ich gehe durch die Straßen. Mein Körper, wie ich mir ich mir in dieser Welt zusammengesetzt habe, besteht aus den Dingen, die ihr nicht mehr beachtet: dem Schimmer zwischen zwei Regentropfen, der Wärme über einem Gullydeckel, der Staubfahne, die sich erhebt, wenn ein Auto zu abrupt anhält. Ich bin leicht und schwer zugleich. Ich mache Schritte, aber ich hinterlasse keine Spuren. Nur ab und zu dreht sich jemand um, ohne zu wissen, warum. Dann weiß ich: er hat mich gespürt.
Ich betrete die Buchlust wie ein Fremder einen Basar. Hier ist es warm, die Luft durchzogen von Stimmen, Papier, Kaffee, Hoffnung. Hoffnung hat einen Geruch, das wusste ich nicht, bevor ich in diese Halle kam. Er riecht nach Druckerschwärze, nach Lachen, das sich fast nicht mehr traut, laut zu sein. Ich sehe eine Frau, die ein Buch hochhält, stolz, wie einen frisch geernteten Granatapfel.
Ich gleite hindurch. Die Menschen sehen mich nicht, aber sie machen mir Platz, so wie sich ein Schwarm Vögel teilt, wenn der Wind durch ihn hindurch fährt.
Dann höre ich das Wort zum ersten Mal.
„Meine volle Solidarität,“ sagt eine Frau an dem Stand, an dem die meisten Menschen stehen
Ihre Stimme trägt es durch den Raum, dieses Wort mit dem Gewicht von Jahrhunderten. Ich bleibe stehen.
Solidarität. In meiner frühen Zeit, in den persischen Bergen, gab es kein Wort dafür. Es war das Knacken des Feuers, das sich vergrößerte, wenn eine neue Familie ankam und Holz in die Mitte legte. Es war das Wasser, das mit Fremden geteilt wurde, auch wenn das Echo im Brunnen lauter wurde. Es war das Wissen, dass man überlebt, wenn man die Geschichten der anderen erhört, und dass man stirbt, wenn man sich selbst genug ist.
Wir nannten es: gemeinsam erzähltes Sein.
Und ich, Sahvar, war der Hüter dieses alten Miteinanders. Ich wanderte von Lager zu Lager, vom Schatten zum Feuer, ein junger Windgeist, der lernte, wie Menschen einander halten. Ich erinnere mich, wie eine alte Frau mir erzählte, dass jeder Mensch eine Sammlung von Geschichten sei, und dass man stirbt, wenn niemand mehr zuhört.
Ich höre das Wort wieder.
Der kleine Pulk von Menschen steht eng gedrängt vor einem Stand, über dem Verbrecherverlag geschrieben steht. Ihre Augen leuchten freundlich. Wie Perlen, die von einer Schnur springen, kullert es mir entgegen, dieses neue Wort für die uralte Form. Ich sammle es ein, jedes davon. Es gibt Worte, die sind schwer. Und solche, die tragen Licht. Dieses Wort ist beides.
In meiner Zeit war Solidarität ein fester, warmer Kreis um das Lagerfeuer. Heute wirkt sie wie ein Netzwerk aus Fäden. Manche sind dünn, manche reißen schnell. Manche halten jedes Zerren aus. Manche ziehen so straff, dass die Menschen kaum noch atmen können. Manche wirken wie der Faden eines Spinnennetzes, manche wie aus Stahl.
Ich lächle, obwohl mein Körper dafür kein Gesicht hat.
Für einen Moment weht durch den Raum Duft von Safran und Sandelholz, verdrängt den Kaffee und den Schweiß der Menschen. Dieser Geruch kommt von mir. Ich lasse ihn bei den Geschichtenfreunden zurück.
Als ich die Halle verlasse, trägt mich der Wind davon. Er hat mich erkannt.
Ich bin Sahvar. Ich bin weit gereist. Und heute, in Hannover, auf einer Messe kleiner Verlage, habe ich etwas wiedergefunden: Das leise Dröhnen von Geschichten, die verbinden, und die sich weigern, zu verschwinden.

Wunderschön poetisch!!!
Was für zarte Worte, die mich den Atem anhalten lassen. Der geist von Sahvar trägt mich durch den Tag und gibt mir Kraft!🥰