Sirenen
- Fremdtext
- 31. Mai
- 2 Min. Lesezeit
von Wolfgang Kemmer
"Sirenen“ - Was mir dazu einfällt?
Einige der Flüchtlinge in meinen Deutschkursen schauen mich bei jedem Probealarm verängstigt an. Es gelingt mir immer schnell, sie zu beruhigen. Trotzdem ...
Ich selbst habe schon tausend Mal Sirenen gehört, ein paar Mal war es sogar ernst, weil es irgendwo brannte, einmal auch wegen irgendeines Gifts in der Luft. Aber nach den ersten zwei, drei Malen, als mich als Kind das ohrenbetäubende Gejaule erschreckte, habe ich nie wieder Angst dabei empfunden. Natürlich kann auch hier etwas passieren. Aber wir leben in Deutschland, und im Notfall haben wir eine Feuerwehr und lassen ein paar Stunden die Fenster zu. Ich bin geboren und aufgewachsen in Sicherheit – Sirenen können mich nicht schrecken.
Die Reaktionen meiner Kursteilnehmer zeigen mir, wie privilegiert und angstfrei wir leben.
Noch deutlicher wird mir das, als ich wieder einmal einen der Afghanen frage, ob er mir für mein integratives Projekt seine „Fluchtgeschichte“ erzählen möchte. Er könnte es. Er war in seiner Heimat Lehrer, ein sehr offener, eloquenter Mann, mit großer Allgemeinbildung, der hervorragend Englisch spricht. Auch sein Deutsch ist schon gut genug. Er fängt an, erzählt von Leichenbergen in einem trockengelegten Flussbett, von Gelynchten an Laternenpfählen und Fußballtoren, von Verurteilten, denen man für geringfügige Vergehen Gliedmaße abgehackt hat. Ich kann an seinem Gesicht ablesen, dass er diese Dinge nicht nur gelesen oder davon gehört, sondern sie wirklich gesehen hat. Dann zeigt er mir ein TikTok-Video und erklärt mir, dass der Mann, der darin mit hasserfülltem Gesicht in die Kamera geifert, gerade einen Jugendlichen bedroht, der hier in Deutschland etwas Schlechtes über die Taliban geäußert hat.
Mehr muss er mir nicht sagen. Ich weiß, dass auch er mir seine Fluchtgeschichte nicht erzählen wird. Ich kann nachvollziehen, warum. Ich verstehe auch, warum Geflüchtete beim Jaulen der Sirenen zusammenschrecken. Auch hier bei uns in Deutschland.
Wie man darüber nachdenken kann, solche Menschen wieder dorthin abzuschieben, wo ihre Ängste und Traumata herrühren, macht mich fassungslos.
Die Fluchtgeschichten findet ihr unter: www.meine-flucht.de
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