Neutralisierungsmechanismus
- Kathrin Lange

- 18. März
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Aug.
(Frau Mo ist eine Figur, die immer wieder einmal durch meine Gedanken geistert, eine alte Frau, die täglich in einem Café der namenlosen Erzählerin auftaucht und die Menschen rings herum in Gespräche verwickelt. Manchmal geben meine Storytitel einen versteckten Hinweis auf tieferen Sinn, allerdings ist das nicht immer der Fall. Was Frau Mo übrigens sehr gefällt.
Die hier veröffentlichte Szene wurde inspiriert durch den Blogbeitrag von Susanne Beck, "Was macht die Welt aus mir?")
Ich habe soeben einem Gast einen Becher Cappuccino über den Tresen gereicht, als Frau Mo das Café betritt. Wie jeden Vormittag nickt sie mir zu und steuert dann ihren Stammplatz an. Sie sitzt immer ganz am Ende des Tresens, in der Ecke, dort, wo die Ladenwand so nahe ist, dass sie trotz ihrer winzigen und hageren Gestalt in der Nische kaum Platz findet. Von dort aus kann sie den ganzen Laden überblicken, und dort sitzt sie manchmal stundenlang, trinkt den Tee, den ich ihr wortlos hinstelle und wartet darauf, dass etwas passiert.
An dem Tisch vorne links am Fenster sitzt eine junge Frau und tippt auf ihrem Handy herum. Sie ist wütend, das kann man ihrem Kopfschütteln und den verkrampften Schultern ansehen. Sie liest, dann tippt sie wieder. Und sie wird immer wütender dabei.
Ich werfe einen Blick in Frau Mos Richtung. Sie hat die junge Frau im Auge, so fest, dass klar ist: Gleich steht sie auf und geht an ihren Tisch. Ich warte darauf, dass sie den letzten Schluck Tee nimmt, die Tasse zurück auf die Untertasse stellt – wie immer ganz sachte und vorsichtig, sodass das Porzellan nur ein kaum hörbares Klirren von sich gibt. Dann stemmt sie sich an der Kante des Tresens in die Höhe. Sie humpelt, ihre Hüfte scheint heute wieder weh zu tun.
Als sie vor dem Tisch der jungen Frau stehenbleibt, schaut die von ihrem Handy auf. Ich bin gespannt, was nun kommt.
"Sie sehen verärgert aus", sagt Frau Mo zu der jungen Frau.
Die ist so verblüfft, dass sie darauf eingeht. "Finden Sie?", fragt sie. Frau Mo hat diese Wirkung auf die meisten Menschen. Ich kenne nur wenige, die sich nicht auf ein Gespräch mit ihr eingelassen haben, und ich bedauere jeden einzelnen von ihnen.
"Darf ich?" Frau Mo deutet auf den leeren Stuhl am Tisch.
"Bitte." Die junge Frau scheint neugierig darauf zu sein, was jetzt kommt. Und auch als Frau Mo die Hand ausstreckt und noch einmal fragt: "Darf ich?", wehrt sie sich nicht. Klaglos händigt sie der runzeligen Dame ihr Telefon aus. Ich schüttele den Kopf, bin wieder einmal fasziniert von der fast hypnotischen Wirkung dieser kleinen, alten Frau.
"Sie schreiben sich mit einem Mann", sagt Frau Mo nach einem Blick auf den Bildschirm.
"Ja, und?"
"Er findet, diese blaue Partei zu wählen, ist eine gute Idee."
Ein Schatten huscht über das Gesicht der jungen Frau. "Ich kapiere einfach nicht, warum er in letzter Zeit so abdriftet!"
"Dann kennen Sie ihn. Über das Internet hinaus, meine ich?"
Die junge Frau nickt.
Frau Mo liest weiter, was sie geschrieben hat. "Sie nennen ihn einen faschistischen Idioten."
"Ich war wütend", sagt die junge Frau.
"Ja. Das sieht man." Frau Mo betrachtet das Handy. Dann schaut sie auf, ihr runzeliges Gesicht hat diesen speziellen Ausdruck, der mir sagt, dass jetzt etwas passiert. "Ich finde auch, dass es eine gute Idee ist, die blaue Partei zu wählen", sagt Frau Mo. Ich bin sprachlos, denn das ist eine glatte Lüge. Ich erinnere mich nur zu gut an all unsere Gespräche der letzten Monate, in denen es um eben diese Partei ging. Und ich kenne keinen Menschen, der offensiver und kompromissloser links ist als Frau Mo!
Auch die junge Frau am Tisch ist verwundert. "Wirklich? Warum finden Sie das?"
Frau Mo lächelt. "Mich haben Sie nicht faschistische Idiotin genannt."
Ich muss ebenfalls lächeln, weil mir schlagartig klar wird, worauf sie hinauswill.
Da gibt Frau Mo der jungen Frau das Telefon zurück. Sie betrachtet es, als fürchte sie, es könne sich plötzlich ein Virus darauf befinden.
"Denken Sie mal drüber nach", sagt Frau Mo. Dann kehrt sie zu ihrem Sitzplatz in der Nische zurück, und ich stelle ihr einen neuen Tee hin.
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