Grenzfall
- Susanne Beck
- 25. Apr.
- 3 Min. Lesezeit
Einen Text über die Spannung zwischen Ost- und Westdeutschland aus westdeutscher Perspektive zu schreiben, ist ambitioniert. Es ist gut möglich, dass die eigene Perspektive als verzerrt oder unangemessen wahrgenommen wird. Dennoch oder gerade deshalb möchte ich den folgenden Text zur Diskussion stellen – schreibt in die Kommentare, wenn ihr die Dinge anders seht. Sehr gern würde ich wissen, wie ihr die DDR und den Mauerfall erfahren habt. Darüber hinaus interessiert mich ganz generell, wie ihr die 1990er erlebt habt und wie ihr die Spannungen von heute wahrnehmt.
Ich erinnere mich an den Geruch von Zweitakteröl und Braunkohle. An die grauen Häuserzeilen, die sich hinter einem dichten, hellbraunen Nebel ausbreiteten.
Ich war zwölf. Es war der Tag danach. Es war der 11.11.1989. Mein Bruder hielt sich die Nase zu. Mein Vater hatte einen Klappstuhl dabei, warum auch immer. Meine Mutter sagte leise: „Starrt nicht so.“
Doch wir starrten. Auf die Menschen, die uns entgegenkamen. Auf ihre Cordhosen, die farblosen Trainingsjacken. Auf die Trabis, die wie Spielzeugautos wirkten. Auf das vorsichtige Lachen der Menschen. Meine Schwester kicherte.
Ich war zwölf, hatte schon mal die „Bravo“ gelesen, hatte einen Asthma-Spray in der Tasche und trug eine Jeansjacke mit Aufnähern. Zum Glück hatte ich an das Spray gedacht – ich bekam einen Anfall, noch bevor wir das erste Dorf erreicht hatten. Die Luft, sagte mein Vater. Die Luft war braun. Ich saß im Auto, rang um Atem, während draußen die Menschen lachten, winkten.
In meinem Kopf tauchte ein Bild auf: Ich war vielleicht acht, die Erinnerung war verschwommen. Wandertag, unser Lehrer hatte seinen Dackel dabei. Wir liefen auf unserer Seite der Grenze. In der Ferne die Wachtürme. Der Lehrer, der sagt: „Hier hört unsere Welt auf.“Und jetzt, plötzlich hörte sie nicht mehr dort auf.
Ich dachte: Das ist Glück. Das ist Geschichte. Das hier ist Zukunft.
Diese Menschen sind jetzt endlich frei, dachte ich. Dieser überhebliche Gedanke blieb hängen in mir, ohne dass ich es merkte. Den Preis dafür zahlte ich später.
„Du verstehst es nicht“, hatte er gesagt. Es war nicht das erste Mal. Das erste Mal jedoch hatte ich das Gefühl, dass ich vielleicht nie würde verstehen können. Ich teilte ihm mit, was ich empfand. Ich weiß nicht, ob er mich verstand, und auf welche Entscheidung ich damit zusteuerte. Dieser Moment war der Anfang von unserem Ende, so im Nachhinein betrachtet.
Am Tag danach saßen wir in der Küche seiner Mutter in Görlitz, spätnachmittags, Kaffee in geblümten Tassen. Ich hatte nicht einfach abreisen können, noch hatte ich Hoffnung. Seine Mutter sprach von den „guten Zeiten damals“, der Gemeinschaft, dem Zusammenhalt. Es passte nicht zusammen mit der Geschichte, die er mir über sie erzählt hatte, von einer Lehrerin, die wegen ihres Widerstandes Probleme hatte. Ich lächelte, nickte, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Es war nicht so, dass ich nicht zuhören wollte. Ich wollte nur nicht einfach so zustimmen. Ich wollte wissen: Wo kam denn die Gemeinschaft her, wenn gleichzeitig das System Menschen zu Verrätern gemacht hatte, innerhalb ihrer Nachbarschaft, ihres Freundeskreises, ihrer eigenen Familie? Ich fragte nicht.
Er sagte: „Bei euch war alles da. Schicke Klamotten, freies Fernsehen, Demokratie. Bei uns war das Leben klein. Es ging ums Durchhalten. Und darin waren wir gleich, irgendwie.“Ich zuckte unsicher mit den Schultern.
Er sah mich an. Dann stand er auf. Ging in sein Zimmer, hörte Musik, die ich nicht kannte.
Ich war zwölf, als ich zum ersten Mal spürte, dass eine ganze Welt sich verändern kann.Ich war Mitte dreißig, als ich merkte, dass das manchmal auch zu schnell gehen kann.
Ich denke an ihn. An den Blick, als er sagte: „Du meinst es gut. Aber das reicht nicht immer.“
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