Dieses Gefühl, wenn es kippt
- Fremdtext
- 25. Apr.
- 4 Min. Lesezeit
Anonym
DDR, das steht für deutsche, demokratische Republik.
Ich muss daran denken, weil meine Mutter mir gerade von der Seite diesen einen Satz zugeworfen hat:
„Es gibt echte Demokratien und unechte.“
Alles in mir zieht sich zusammen. Ich schaue nach links und rechts. Gehe auf Abstand zu den anderen Besuchern, die gemeinsam mit meiner Mutter und mir durch das frisch restaurierte österreichische Parlament schlendern und uns hören könnten.
„Mama“, stöhne ich. Warum muss sie ausgerechnet jetzt und hier damit anfangen? In einem Gebäude, das eins zu eins dem alten griechischen Parlament nachempfunden ist. „Die DDR war keine Demokratie“, platzt es dann doch aus mir heraus. Aber meine Worte prallen gegen eine Mauer. Gegen die im Kopf meiner Mutter.
„Natürlich war sie das!“ Widerspruch hat keine Chance bei ihr. „Ich habe das schließlich studiert!“, sagt sie. Es fühlt sich eher nach Schreien an.
Ja, hast du, denke ich. Aber wo?
Ich versuche irgendwie, mich zusammenzureißen. Wie Luftanhalten ist das. Als wir endlich das Parlament verlassen haben, kann ich nicht mehr.
„Mama“, sage ich. „Wie kann ein Staat, der seine Menschen einsperrt, eine Demokratie sein?“
Sie ringt mit sich, verzieht ihr Gesicht. „Es war ja niemand eingesperrt. Die Leute konnten doch einen Ausreiseantrag stellen.“
Konnten sie. Und wie demütigend und erniedrigend allein das schon gewesen sein muss, mag ich mir gar nicht vorstellen. Wie, wenn du mit deinem Partner Schluss machen musst und nicht weißt, wie du es anstellen sollst – nur mit dem Unterschied, dass die DDR einfach „Nein“ sagen kann, und dich und deine Liebsten aus Wut auch noch lebenslang stalken darf dafür. Oder einsperren. Ganz legal.
„An der Mauer haben sie Menschen erschossen, Mama!“
„Ja, aber niemand sagt, wer geschossen hat. Dass die aus dem Westen rübergeschossen haben.“
„So ein Quatsch!“ Ich versuche nicht zu schreien. „Ich habe Menschen kennengelernt, Mama. Meine Studienfreundin ist als Kind selbst zusammen mit ihrer Mutter in Todesangst über die Grenze gerannt. Und ich weiß noch, wie ich in meinem DDR-Sportshirt in München zum HNO gegangen bin. Als die Ärztin vor mir saß, ist sie erstarrt. Käseweiß hat sie mich angesehen und gefragt: ‚Sie wissen schon, was Sie da tragen?‘ Ich habe auch noch genickt mit stolzer Brust. ‚Die haben Menschen umgebracht!‘, sagt sie da und sie sagt es nicht, weil sie davon gehört hat, sondern weil sie selbst betroffen war.Ich habe mich so geschämt, Mama. Nie wieder in meinem Leben habe ich mich so geschämt!“
Während ich ihr mein Herz ausschütte, zittere ich am ganzen Körper. Wie an dem Tag, als Putin in die Ukraine einmarschiert ist. Ich erzähle ihr auch davon, und wie ich an jenem Tag in der Küche zu meinem Mann meinte:
„Du sagst immer, man kann den kleinen Mikey aus der DDR holen, aber nicht die DDR aus dem Mikey. Heute ist der Tag, an dem die DDR aus dem Mikey gekommen ist.“
Und ich erzähle ihr, wie ich in Tränen ausgebrochen bin bei diesem Satz und nur noch geweint habe. Vor Wut. Wie unendlich tief verletzt ich in diesem Moment war. Wie zutiefst verletzt ich noch immer bin. Wie entsetzt, enttäuscht und traurig. Wie verarscht, manipuliert und benutzt ich mich fühle. Wie sehr mich der Gedanke zerreißt, dass mein Stasionkel am Ende Putin noch persönlich gekannt haben könnte. Weil Putin zu DDR-Zeiten schließlich selbst bei der Stasi war. Ich erzähle ihr, wie hilflos und allein ich mich seitdem auf dieser Welt fühle. Schließlich ist sie ja meine Mama, der einzige Mensch auf der Welt, der dann noch da ist, wenn einem alles unter den Füßen weggerissen wird, der einen dann in den Arm nimmt und beschützt.
„Es ist ja klar, dass du jetzt so reden musst“, antwortet sie und versucht, die Diskussion abzuwürgen. „Das ist jetzt deine Welt. Du bist jetzt eben anders.“
„Wenn wirklich alle so sozialistisch waren früher“, entgegne ich. „Wo kommen dann die ganzen Nazis im Osten her?“
Da schluckt sie. „Das habe ich mich auch oft gefragt.“ Dann erzählt sie mir, dass sie Migräne hat und jetzt wieder gehen muss.
Ich fühle mich schuldig, als ich mich von ihr wegdrehe, sie am Schottentor stehen lasse und allein zurück in die U-Bahn gehe.
Weil ich mich triggern lassen habe.
Und das einzige Resultat ist nun eine Migräne bei ihr.
Und mein Zittern.
Wie damals, in meiner Heimatstadt, nachdem mich die Nazis mit dreizehn Jahren vor dem Plattenbau verdroschen haben. Und ich völlig leer im Kopf erst auf dem Sofa im Wohnzimmer wieder zu mir gekommen bin. Am ganzen Leib zitternd. Und ich nicht einmal mehr wusste, welcher Tag war. Nur, dass ich unter Schock stand und dass meine Eltern sofort im Theater anrufen mussten, damit es meine Freunde auf dem Heimweg nicht auch erwischte.
Nachdem ich endlich sitze und die U-Bahn mit mir in die Dunkelheit hinein rast, versuche ich, meine Gedanken zu ordnen.
Ich muss daran denken, wie ich einer Freundin aus dem Westen einmal von diesem Gefühl erzählt habe, diesem Gefühl kurz vor der Wende, als ich in den Diskussionen in der Schule gemerkt habe, wie es kippt.
Dieses Gefühl löst die Erinnerung an einen kalten Abend vor mehr als zehn Jahren in Hamburg aus. Daran, wie ich aus dem Kino kam, nachdem ich „Cloud Atlas“ gesehen habe. Und dachte: Merkwürdig diese ganzen Geschichten gerade über autoritäre Systeme. Und spürte: Da kommt was auf uns zu.
Der Zeitungsartikel kommt mir in den Sinn, den ich vor ein paar Tagen gelesen habe, über Orban, der auf dem CSD in Ungarn Schwule wie mich per Gesichtserkennung erfassen lassen will.
Als ich schließlich mein Handy in die Hand nehme, um mich abzulenken, ploppt dieses Video auf. Es zeigt eine türkische Studentin in Amerika, die allein auf der Straße von fünf vermummten Männern in schwarzen Kapuzenpullis verhaftet wird, weil sie in einer Studentenzeitung den Krieg gegen die Hamas kritisiert hat. Dieser Anblick. Ihr kurzes, hohes Schreien. Das erwischt mich eiskalt. Oh Gott, denke ich, wie sie sich gefühlt haben muss in diesem Moment – wie ich mich damals, mit den Nazis, vor dem Plattenbau.
Ich will nur noch nach Hause.
Und genau dort stehe ich dann schon wieder in der Küche, spreche mit meinem Mann und zittere, als es mir über die Lippen kommt: „Wir sind nicht mehr nur kurz davor“, sage ich. „Wir sind mittendrin.“
Sehr eindringlicher Text, der mich sehr berührt und mir deutlich macht, um wieviel unsicherer es sich als nicht heterosexueller Mensch lebt, welche Ängst man aussteht. Danke für diese Einsicht.